»Äh. Nein.«

 

Paulette sagte den ganzen Abend kein Wort. Mehr als vierzig Jahre lang hatte sie Menschen dieses Schlages bei Tisch bedient, und sie fühlte sich zu unwohl, um ihren Senf auf die bestickte Tischdecke zu geben.

 

Auch der Kaffee war beschwerlich.

Dieses Mal nahm Philou den Platz der Wurftaube ein:

»Nun, mein Sohn? Noch immer im Postkartengewerbe?«

»Noch immer, Vater.«

»Anregend, nicht wahr?«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr.«

»Werden Sie bitte nicht ironisch. Ironie ist die Waffe der Faulpelze, das dürfte ich Ihnen häufig genug gesagt haben.«

»Ja, Vater. Die Stadt in der Wüste von Saint-Ex…«

»Pardon?«

»Saint-Exupéry.«

Der Vater schluckte die Pille.

 

Als sie endlich das düstere Zimmer verlassen durften, in dem alle Tiere der Region ausgestopft über ihren Köpfen hingen, selbst ein Rehkitz, verflucht noch mal, selbst Bambi, trug Franck Paulette in ihr Zimmer. »Wie eine Braut«, flüsterte er ihr ins Ohr und schüttelte traurig den Kopf, als ihm klar wurde, daß er tausend Milliarden Kilometer entfernt von seinen Prinzessinnen schlafen würde, zwei Stockwerke höher.

 

Er hatte sich umgedreht und befühlte eine geflochtene Wildschweinpfote, während Camille sie entkleidete.

»Ich glaub das einfach nicht. Ist euch aufgefallen, wie schlecht das Essen war? Was soll das? Das Zeug war ungenießbar! Ich würde es nie wagen, meinen Gästen so was vorzusetzen! Da macht man lieber ein Omelett oder Nudeln!«

»Sie haben vielleicht nicht die nötigen Mittel?«

»Mann, jeder hat doch wohl die Mittel für ein gutes Omelett? Das kapier ich nicht. Ich kapier’s nicht. Mit Besteck aus massivem Silber Scheiße fressen und einen elenden Rachenputzer in einer Kristallkaraffe servieren. Bin ich blöd, oder was? Irgendwas kapier ich da nicht. Wenn die nur einen einzigen ihrer elfundfuffzig Leuchter verkaufen würden, hätten sie genug, um ein Jahr lang anständig zu essen.«

»Sie sehen es wahrscheinlich nicht so. Die Vorstellung, einen einzigen Zahnstocher der Familie zu verkaufen, muß ihnen ebenso ungebührlich vorkommen wie dir die Vorstellung, deinen Gästen Dosengemüse aufzutischen.«

»Und nicht mal gutes, verflucht noch mal! Ich hab die leere Dose im Mülleimer gesehen. Es war ein No-name-Dingsda! Glaubst du’s? Wohnen in einem solchen Schloß mit Wassergraben und Lüstern, mit Tausenden Hektar Land und allem Drum und Dran und dann Dosenfraß futtern! Das kapier ich nicht. Sich vom Wildhüter Monsieur le Marquis nennen lassen und einem armseliges Dosengemüse mit Mayo in der Tube servieren, ich sag’s dir, ich faß es nicht.«

»Komm, beruhig dich. So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

»Doch, das ist schlimm, verdammt! Das ist schlimm! Wozu soll das gut sein, seinen Kindern ein Vermögen zu vererben, wenn du dich nicht mal freundlich mit ihnen unterhalten kannst! Nee, hast du gesehen, wie er mit unserem Philou gesprochen hat? Hast du seine Lippe gesehen, wie er die hochgezogen hat? ›Noch immer im Postkartengewerbe, mein Sohn?‹, sollte heißen, ›du Schwachkopf von Sohn?‹ Ich sag dir, ich hatte Lust, ihm eine zu ballern. Unser Philou ist ein Gott, das reinste menschliche Wesen, das ich in meinem Leben kennengelernt habe, und er hackt auf ihm rum, dieser Arsch.«

»Zum Teufel, Franck, hör auf so zu fluchen, verdammt«, sagte Paulette betrübt.

Maulkorb fürs Fußvolk.

 

»Pff. Außerdem schlaf ich in Timbuktu. Und das sag ich euch, ich geh morgen früh nicht mit zur Messe! Tz, wofür sollte ich Dank sagen? Philou und ich, wir zwei hätten uns besser in einem Waisenhaus kennengelernt.«

»Ah ja! Bei Miss Pony!«

»Was?«

»Nichts.«

»Gehst du zur Messe?«

»Ja, ich würde gern.«

»Und du, Omi?«

»…«

»Du bleibst bei mir. Wir werden diesem Pack mal zeigen, was gutes Essen ist. Wenn sie schon nicht die Mittel haben, werden wir sie anständig füttern!«

»Ich kann nicht mehr sehr viel ausrichten, weißt du.«

»Das Rezept von deiner Osterpastete, weißt du das noch auswendig?«

»Natürlich.«

»Na also, wir werden’s ihnen schon zeigen. An die Laternen, Aristokraten! Gut, ich geh schlafen, sonst lande ich noch im Verlies.«

 

Wie war die Überraschung groß, als Madaaame Marie-Laurence am nächsten Morgen um acht Uhr in die Küche kam. Franck war schon vom Markt zurück und dirigierte seine unsichtbare Dienerschaft.

Sie war verblüfft:

»Mein Gott, aber …«

»Alles in Ordnung, Madaaaame Marquise. Alles in bester Ordnung, in bester O-o-ordnung!« sang er und öffnete alle Schränke. »Sie brauchen sich um nichts zu kümmern, ich nehme das Mittagessen in die Hand.«

»Und … Und meine Hammelkeule?«

»Die habe ich in die Tiefkühle getan. Sagen Sie, Sie hätten nicht zufällig ein Brühsieb?«

»Pardon?«

»Ach nichts. Einen Durchschlag vielleicht?«

»Äh. Ja, hier im Schrank.«

»Oh! Wunderbar ist das!« sagte er hellauf begeistert, als er das Ding hochhob, dem ein Fuß fehlte. »Aus welcher Epoche ist der? Ausgehendes 12. Jahrhundert, würde ich schätzen?«

 

Ausgehungert und gutgelaunt kamen sie zurück, Jesus hatte sich zu ihnen gesellt, und sie begaben sich zu Tisch. Und leckten sich die Lippen. Hoppla, Franck und Camille standen rasch wieder auf. Sie hatten das Tischgebet vergessen.

 

Der Paterfamilias räusperte sich:

»Segne uns, Herr, segne dieses Mahl und jene, die es bereitet haben« (Augenzwinkern von Philou zum Küchenjungen), bla bla bla »und gib denen Brot, die keines haben.«

»Amen«, antwortete die Schar junger Mädchen kokett.

»Und da es sich nun einmal so verhält«, fügte er hinzu, »werden wir dieser herrlichen Mahlzeit die Ehre erweisen. Louis, holen Sie mir zwei Flaschen von Onkel Hubert, bitte.«

»Oh, Liebster, sind Sie sich ganz sicher?« fragte seine Liebste beunruhigt.

»Aber gewiß, aber gewiß. Und Sie, Blanche, hören auf, ihren Bruder zu frisieren, wir sind hier nicht in einem Friseursalon, soweit mir bekannt ist.«

 

Es gab Spargel mit einer Sauce hollandaise – zum Reinsetzen –, dann folgten die Osterpastete mit Prädikat von Paulette Lestafier sowie Lammbraten und Tomaten-Zucchini-Auflauf mit Thymian, Erdbeerkuchen und Walderdbeeren mit Schlagsahne.

»Und mit vollem Körpereinsatz geschlagen, bitte schön.«

 

Selten waren sie um diesen ausgezogenen Tisch so glücklich gewesen, und noch nie hatten sie so herzhaft gelacht. Nach ein paar Gläsern legte der Marquis seine Steifheit ab und erzählte abstruse Jagdgeschichten, bei denen er nicht immer eine gute Figur machte. Franck war viel in der Küche, und Philibert übernahm den Service. Sie waren perfekt.

»Sie sollten zusammenarbeiten«, flüsterte Paulette Camille zu, »der kleine Brodelnde am Herd und der große Höfliche im Saal, das wäre ein Vergnügen.«

 

Den Kaffee nahmen sie auf der Vordertreppe ein, und Blanche trug weitere Leckereien herbei, bevor sie sich wieder auf Philiberts Schoß setzte.

 

»Uff!« Endlich setzte Franck sich hin. Nach einer Schicht wie dieser würde er sich gerne eine drehen, aber hm … Lieber nahm er Camille ins Visier.

»Was ist das?« fragte sie ihn und zeigte auf den Korb, auf den sich alle stürzten.

»Liebesknochen«, kicherte er, »das mußte einfach sein, die konnt ich mir nicht verkneifen.«

 

Er stieg eine Stufe hinunter und lehnte sich an die Beine seiner Schönen.

Sie legte ihr Heft auf seinen Kopf.

 

»Fühlst du dich gut so?« fragte er sie.

»Sehr gut.«

»Tja, darüber solltest du mal nachdenken, mein Möpschen.«

»Worüber?«

»Darüber. Wie wir uns hier im Moment so befinden.«

»Ich kapier gar nichts. Soll ich dich kraulen?«

»Ja. Ja, kraul mich, dann kraul ich dich auch.«

»Franck«, seufzte sie.

»Das war doch nur symbolisch gemeint! Daß ich mich bei dir ausruhe und du an mir arbeiten kannst. So was in der Richtung, verstehst du?«

»Du bist schlimm.«

»Ja. Gut, ich werd schon mal die Messer wetzen, wo ich endlich die Zeit dazu habe. Ich bin sicher, ich finde hier alles, was ich brauche.«

 

Anschließend machten sie eine Grundstücksbegehung im Rollstuhl, und der Abschied erfolgte ohne überschwengliche Gefühlsäußerungen. Camille schenkte ihnen ihr Schloß als Aquarell, und Philibert gab sie Blanche im Profil.

»Du gibst immer alles weg. So wirst du nie reich.«

»Macht nichts.«

 

Am Ende der Pappelallee schlug er sich mit der Hand auf die Stirn:

»Caramba! Ich hab vergessen, ihnen Bescheid zu sagen.«

Keine Reaktion im Wageninneren.

»Caramba! Ich hab vergessen, ihnen Bescheid zu sagen«, wiederholte er lauter.

»Häh?«

»Was?«

»Ach nichts. Nur eine Kleinigkeit.«

 

Gut.

Erneutes Schweigen.

 

»Franck und Camille?«

»Ja, ja, wir wissen schon. Du willst dich bedanken, weil du deinen Vater seit der Episode mit der Vase von Soissons zum ersten Mal hast lachen sehen.«

»Kei… Keinesweges.«

»Was denn sonst?«

»Wä… wärt ihr bereit, meine Trau… meine Trau… meine Trau…«

»Was, deine Trau? Deine Trauben?«

»Nein. Meine Trau…«

»Deine Traumfrau?«

»N… nein, meine Trau… Trau…«

»Deine was? Verflucht noch mal!«

»Meine Trau… zeugenzuwerden?«

 

Abrupt blieb das Auto stehen, und Paulette hatte die Kopfstütze im Gesicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

8

 

 

 

Mehr wollte er ihnen nicht verraten.

»Ich sage euch Bescheid, sobald ich Näheres weiß.«

»Häh? Aber, äh. Sag mal, ganz unter uns. Du hast doch wenigstens eine Freundin, oder?«

»Eine Froindin«, antwortete er indigniert, »niemals! Eine Froindin. as für ein unschönes Wort. Eine Verlobte, werter Freund.«

»Aber eh. Sie weiß davon, oder?«

»Pardon?«

»Daß ihr verlobt seid?«

»Noch nicht«, gab er zu und sah zu Boden.

Franck seufzte:

»Ich seh schon. Das ist Philou in Hochkonzentrat. Gut. Du wartest aber nicht bis zum Vortag, um uns einzuladen? Damit ich wenigstens noch Zeit habe, mir einen schönen Anzug zu kaufen.«

»Und ich ein Kleid!« fügte Camille hinzu.

»Und ich einen Hut«, kam es von Paulette.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

9

 

 

 

Die Kesslers kamen eines Abends zum Essen. Schweigend gingen sie durch die ganze Wohnung. Zwei alte Bourgeois, völlig baff. Ehrlich gesagt, ein äußerst genußreiches Spektakel.

Franck war nicht da und Philibert absolut charmant.

 

Camille zeigte ihnen ihr Atelier. Paulette fand sich dort in allen Positionen, allen Techniken, allen Formaten. Ein Tempel ihrer Fröhlichkeit, ihrer Liebenswürdigkeit, der Gewissensbisse und Erinnerungen, die ihr bisweilen das Gesicht zerfurchten.

 

Mathilde war verwirrt und Pierre zuversichtlich:

»Das ist gut! Das ist sehr gut! Bei der Gluthitze des vergangenen Sommers ist das Alte total im Trend, weißt du? Das kommt gut an. Da bin ich mir ganz sicher.«

Camille war verzagt. Ver-zagt.

 

»Hör auf«, sagte seine Frau, »das ist eine Provokation. Er ist ganz ergriffen, der Gute.«

»Oh! Und das hier! Das ist phantastisch!«

»Das ist noch nicht fertig.«

»Das hebst du mir auf, ja? Das reservierst du für mich?«

Camille willigte ein.

 

Nein. Das würde sie ihm niemals geben, weil es niemals fertig würde, denn ihr Modell käme nie mehr wieder. Das wußte sie.

Schade.

Um so besser.

Diese Skizze würde sie also niemals weggeben. Sie war nicht fertig. Sie würde in der Luft hängen. Wie ihre unmögliche Freundschaft. Wie alles, was sie hier unten trennte.

Es war an einem Samstagmorgen gewesen, vor wenigen Wochen. Camille arbeitete. Sie hatte nicht einmal die Klingel gehört, als Philibert an ihre Tür klopfte:

»Camille?«

»Ja?«

»Die … Die Königin von Saba ist hier. In meinem Salon.«

 

Mamadou sah prachtvoll aus. Sie trug ihre schönste Tunika und all ihren Schmuck. Ihre Haare waren bis auf zwei Drittel ihres Kopfes gezupft, und sie trug ein kleines Schultertuch, passend zum Hüfttuch.

»Ich hatte dir gesagt, daß ich komme, aber du mußt dich beeilen, weil ich um vier zu einer Familienhochzeit muß. Hier wohnst du also? Hier arbeitest du?«

»Ich bin so glücklich, dich wiederzusehen!«

»Los. Keine Zeit verlieren, hab ich gesagt.«

 

Camille setzte sie bequem hin.

»So. Halt dich gerade.«

»Aber ich halte mich immer gerade, sowieso!«

Nach ein paar Skizzen legte sie ihren Stift auf den Block:

»Ich kann dich nicht malen, wenn ich nicht weiß, wie du heißt.« Daraufhin nahm die andere den Kopf hoch und hielt ihrem Blick mit wunderbarer Verachtung stand:

»Mein Name ist Marie-Anastasie Bamundela M’Bayé.«

 

Marie-Anastasie Bamundela M’Bayé würde nie wieder als Königin von Diouloulou, dem Dorf ihrer Kindheit, in dieses Viertel zurückkehren. Da war sich Camille ganz sicher. Ihr Porträt würde niemals fertig werden, und es wäre niemals für Pierre Kessler, der absolut außerstande war, die kleine Bouli in den Armen dieser »schönen Negerin« zu erkennen.

 

Abgesehen von diesen beiden Besuchen und einer Fete zum dreißigsten Geburtstag eines Kollegen von Franck, zu der sie alle drei

gingen und auf der Camille völlig losgelöst brüllte: Ich hab mehr Hunger als ein Barrakuda, Ba ra ku daaaa, ereignete sich nichts Nennenswertes.

 

Die Tage wurden länger, der Sunrise drehte auf der Stelle, Philibert probte, Camille arbeitete, und Franck büßte mit jedem Tag ein wenig mehr Selbstvertrauen ein. Sie mochte ihn, aber sie liebte ihn nicht, sie bot sich an, gab sich jedoch nicht hin, versuchte es zwar, glaubte aber nicht daran.

 

Eines Abends schlief er auswärts. Zum Testen.

Sie sagte nichts dazu.

Dann ein zweites, ein drittes Mal. Zum Trinken.

Er schlief bei Kermadec. Die meiste Zeit allein, einen Abend in belgischem Himbeerbierrausch mit einem Mädchen.

Er gab ihr, was sie wollte, und wandte ihr dann den Rücken zu.

»Und jetzt?«

»Laß mich.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

10

 

 

 

Paulette lief nun fast gar nicht mehr, und Camille vermied es, Fragen zu stellen. Sie hielt sie anderweitig fest. Im Tageslicht oder im Schein der Lampen. An manchen Tagen war sie nicht ganz da, an anderen voller Schwung. Es war ermüdend.

Wo hörte der Respekt für andere auf, und wo begann die unterlassene Hilfeleistung gegenüber einem gefährdeten Menschen? Diese Frage nagte an ihr, und jedesmal, wenn sie nachts aufstand, wild entschlossen, einen Arzttermin zu vereinbaren, wachte die alte Dame am nächsten Morgen fidel und frisch wie eine Rose wieder auf.

 

Und Franck, dem es nicht mehr gelang, einer früheren Eroberung aus der Laborszene die Medikamente ohne Rezept zu entlocken.

Sie nahm seit Wochen nichts mehr ein.

 

An Philiberts Theaterabend, zum Beispiel, war sie nicht auf dem Damm, und sie mußten Madame Perreira bitten, bei ihr zu bleiben.

»Kein Problem! Ich hatte zwölf Jahre lang meine Schwiegermutter im Haus, ich bin in Übung. Ich weiß, wie das ist mit den alten Leuten!«

 

Die Aufführung fand in einem Kulturzentrum am Ende der Linie A der RER statt.

Sie nahmen den Zeus um 19:34 Uhr, setzten sich einander gegenüber und fochten schweigend ihre Kämpfe aus.

 

Camille sah Franck lächelnd an.

 

Das kannst du gern für dich behalten, dein blödes Lächeln, ich will es gar nicht haben. Sonst hast du ja nichts zu vergeben. Nur ein Lächeln, um die Leute durcheinanderzubringen. Behalt’s für dich. Komm schon, behalt’s für dich. Irgendwann endest du mit deinen Farbstiften allein in einem Bergfried, und das geschieht dir ganz recht. Ich merke, wie ich es langsam satt habe. Der Regenwurm, der sich in einen Stern verliebt, eine Zeitlang mag das ja gutgehen.

 

Franck betrachtete Camille mit zusammengebissenen Zähnen.

 

Was bist du süß, wenn du wütend bist. Was bist du schön, wenn du mit deinem Latein am Ende bist. Warum kann ich mich bei dir nicht gehenlassen? Warum lasse ich dich leiden? Warum trage ich ein Korsett unter meinem Harnisch und zwei Patronengürtel? Warum mache ich bei der geringsten Kleinigkeit dicht? Scheiße, Mann, nimm einen Dosenöffner! Sieh in deinem Köfferchen nach, ich bin sicher, du hast, was du brauchst, um mich atmen zu lassen.

 

»Woran denkst du?« fragte er sie.

»An deinen Namen. Ich habe kürzlich in einem alten Wörterbuch gelesen, daß der estafier ein Oberknappe war, der einen Reiter begleitete und ihm den Steigbügel hielt.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Ein Diener also?«

 

»Franck Lestafier, der Diener?«

»Hier!«

»Wenn du nicht mit mir schläfst, mit wem schläfst du dann?«

»…«

»Machst du mit den anderen das gleiche wie mit mir?« fragte sie weiter und biß sich auf die Lippen.

»Nein.«

 

Sie gaben sich die Hand und tauchten gemeinsam wieder auf.

Die Hand ist nicht schlecht.

Sie bringt keine Verpflichtung mit sich für den, der sie gibt, und beruhigt den, der sie nimmt.

 

Der Ort hatte etwas Freudloses an sich.

Es roch nach Kinnbärtchen, nach warmer Fanta und unausgegorenen Träumen von Ruhm. Plakate in Quietschgelb kündigten die triumphale Tournee des Ramon Riobambo und seines Orchesters in Lamafellen an. Franck und Camille kauften ihre Eintrittskarten und hatten die Qual der Wahl des Sitzplatzes.

 

Doch langsam füllte sich der Saal. Die Stimmung eine Mischung aus Kirmes und Jugendfreizeit. Die Mamas hatten sich herausgeputzt, die Papas überprüften noch mal die Batterien ihrer Camcorder.

Wie immer, wenn er nervös war, wippte Franck mit dem Fuß. Camille legte ihm die Hand aufs Knie, um ihn zu beruhigen.

»Wenn ich daran denke, daß unser Philou allein vor diesen ganzen Leuten stehen wird, macht mich das völlig fertig. Ich glaub, das verkraft ich nicht. Stell dir vor, er bleibt hängen. Stell dir vor, er fängt an zu stottern. Pff. Hinterher müssen wir ihn mit dem Löffel vom Boden aufkratzen.«

»Schhh. Es wird schon alles gutgehen.«

»Wenn hier auch nur einer kichert, dann knöpf ich ihn mir vor, das sag ich dir.«

»Ganz ruhig.«

»Ganz ruhig, ganz ruhig! Ich würde dich gern sehen! Würdest du vor all den fremden Leuten hier auftreten?«

 

Zuerst waren die Kinder an der Reihe. Etwas Molière, etwas Queneau, etwas kleiner Prinz und etwas geheimnisvolle Rue Broca, das volle Programm.

 

Camille konnte sie nicht malen, sie mußte zu sehr lachen.

 

Danach leierte eine Gruppe schlaksiger Jugendlicher, ein Experiment zur Wiedereingliederung, ihren Existentialismus herunter und schüttelte schwere vergoldete Ketten.

»Du meine Güte, was haben die denn auf dem Kopf?« fragte Franck beunruhigt. »Strumpfhosen?«

 

Pause.

Scheiße. Warme Fanta und immer noch kein Philibert am Horizont.

 

Als es wieder dunkel wurde, trat ein ziemlich flippiges Mädchen auf die Bühne.

Sie ragte kaum über die Tischkante, trug aber rosa Converses im New Look, buntgestreifte Strumpfhosen, einen Minirock aus grünem Tüll und eine perlenbesetzte Fliegerjacke. Die Haarfarbe passend zu den Schuhen.

 

Eine Elfe. Eine Handvoll Konfetti. Von der Art rührender Spinner, die man auf Anhieb mag oder überhaupt nie verstehen wird.

Camille beugte sich vor und sah Franck selig grinsen.

 

»Guten Abend. Also hm. Tja. Ich … Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich Ihnen die … die nächste Nummer präsentieren soll, und schließlich habe ich … habe ich mir überlegt, daß … daß es am besten ist, wenn … wenn ich Ihnen von unserer ersten Begegnung erzähle.«

»Oh oh, noch eine, die stottert. Das ist ein Fall für uns«, flüsterte er.

»Also hm. Es war vor einem Jahr ungefähr.«

Sie wirbelte mit den Armen wild durch die Luft.

»Sie müssen wissen, ich leite ein Kinderatelier in Beaubourg und hm. Er ist mir aufgefallen, weil er ständig um seine Drehständer herumschlich, um immer wieder seine Postkarten zu zählen. Jedesmal, wenn ich vorbeiging, habe ich versucht, ihn zu überraschen, und es hat jedesmal geklappt: Er zählte schon wieder stöhnend seine Karten. Wie … Wie Chaplin, verstehen Sie? Mit dieser Art von Anmut, die einem die Kehle zuschnürt. Wo man nicht mehr weiß, ob man lachen oder weinen soll. Wo man überhaupt nichts mehr weiß. Wo man einfach stehenbleibt, völlig idiotisch, mit einem süßsauren Geschmack im Mund. Einmal habe ich ihm dann geholfen, und ich … ich habe ihn ins Herz geschlossen. Das wird Ihnen bestimmt genauso gehen, sie werden sehen. Man kann einfach nicht anders, als ihn ins Herz zu schließen. Diesen Kerl. Er ist wie alle Lichter dieser Stadt in einem.«

Camille zerquetschte Franck die Hand.

»Ach ja! Und noch etwas. Als er sich mir das erste Mal vorstellte, sagte er: ›Philippe de la Durbellière‹, worauf ich ihm, höflich wie ich bin, genauso geantwortet habe, mitsamt geographischer Angabe: ›Suzy … hm … de Belleville‹. ›Ah!‹ rief er aus, ›Sie sind eine Nachfahrin von Geoffroy de Lajemme de Belleville, der 1672 die Habsburger bekämpfte.‹ Oh Mann! ›Nee‹, hab ich gestammelt, ›aus … aus Belleville in Paris.‹ Und wissen Sie, was das schlimmste war? Er war nicht mal enttäuscht.«

 

Sie machte einen Sprung.

 

»So, das war’s, jetzt ist alles gesagt. Ich bitte Sie nun um anhaltenden Applaus.«

Franck pfiff auf den Fingern.

 

Philibert schleppte sich schwerfällig auf die Bühne. In Rüstung. Mit Kettenhemd, Federbusch, langem Schwert, Schild und jede Menge Eisenkram.

 

Schaudern beim Publikum.

 

Er fing an zu reden, aber man konnte ihn nicht verstehen.

Nach ein paar Minuten kam ein Junge mit einem Schemel auf die Bühne und schob das Visier in die Höhe.

Jetzt konnte man ihn, der unerschütterlich weitersprach, endlich hören.

Vorsichtiges Gelächter.

Noch wußte keiner, ob es Absicht war oder nicht.

 

Nun begann Philibert einen genialen Striptease. Jedesmal, wenn er ein Stück Eisen auszog, benannte es sein kleiner Page mit lauter Stimme:

»Der Helm … die Sturmhaube … die Halsberge … der Brechrand … der Brustharnisch … der Bauchreifen … die Armkachel … der Panzerhandschuh … der Diechling … der Kniebuckel … die Beinröhre …«

 

Vollkommen entbeint, sackte der Ritter schließlich in sich zusammen, und der Junge zog ihm die »Schuhe« aus.

»Die Bärlatschen«, verkündete er schließlich, indem er sie über seinen Kopf hob und sich die Nase zuhielt.

Echtes Gelächter diesmal.

Nichts ist besser als ein derber Gag, um einen Saal in Schwung zu bringen.

 

Unterdessen breitete Philibert Jehan Louis-Marie Georges Marquet de la Durbellière mit monotoner und blasierter Stimme die Äste seines Stammbaums aus und rühmte die kriegerischen Heldentaten seines noblen Geschlechts.

 

Sein Urahne Karl mit Ludwig dem Heiligen gegen die Türken 1271, sein Ahne Bertrand in der Klemme in Azincourt 1415, sein Onkel Bidule bei der Schlacht von Fontenoy, sein Opa Ludwig auf der Uferböschung des Moine in Cholet, sein Großonkel Maximilian an der Seite Napoleons, sein Urgroßvater auf dem Chemin des Dames und sein Großvater mütterlicherseits Gefangener der Deutschen in Pommern.

Mit unendlichen Details. Die Bälger waren mucksmäuschenstill. Französische Geschichte in 3D. Große Kunst.

 

»Und das letzte Blatt am Baum«, schloß er, »steht hier vor Ihnen.«

 

Er stand wieder auf. Weißhäutig und hager, nur mit einer Unterhose bekleidet, die mit Lilien bedruckt war.

»Ich bin der Kerl, wissen Sie? Der immer seine Postkarten zählt.«

 

Sein Page brachte ihm einen Soldatenmantel.

»Warum?« fragte er sie. »Warum zum Teufel zählt der Nachkomme eines solchen Konvois wieder und wieder Papierfetzen an einem Ort, den er verabscheut? Nun, das will ich Ihnen sagen.«

 

Und jetzt drehte der Wind. Er erzählte von seiner chaotischen Geburt, bei der er sich verkehrt angestellt hatte, »damals schon«, seufzte er, und seine Mutter sich weigerte, in ein Krankenhaus zu gehen, in dem auch Abtreibungen vorgenommen wurden. Er erzählte von seiner Kindheit, abgeschnitten von der Welt, in der man ihm beibrachte, gegenüber den einfachen Leuten den nötigen Abstand zu wahren. Er erzählte von seinen Jahren im Pensionat mit seinem Gaffiot als Speerspitze und den unzähligen Gemeinheiten, denen er ausgesetzt war, er, der über Kräfteverhältnisse nicht mehr wußte, als ihm die langsamen Bewegungen seiner Bleisoldaten gezeigt hatten.

Und die Leute lachten.

 

Sie lachten, weil es witzig war. Das Glas mit der Pisse, die Sticheleien, die Brille, die ins Klo flog, die Aufforderungen zum Masturbieren, die Grausamkeit der Bauernsöhne aus der Vendée und der fragwürdige Trost des Betreuers. Die weiße Taube, die langen Abendgebete, um denen zu vergeben, die einem weh getan hatten, und sich nicht in Versuchung führen zu lassen, und sein Vater, der ihn jeden Samstag fragte, ob er sich seines Standes würdig erwiesen und seinen Vorfahren Ehre gemacht habe, während er hin- und herrutschte, weil sie ihm wieder einmal den Schwanz mit Schmierseife eingerieben hatten.

 

Ja, die Leute lachten. Weil auch er darüber lachte und weil man von nun an zu ihm hielt.

Alles Prinzen.

Alle hinter seinem weißen Federbusch.

Alle bewegt.

 

Er erzählte von seinen Zwangsvorstellungen und Obsessionen. Seinen Psychopharmaka, seinen Krankenscheinen, auf die sein Name nie ganz paßte, seinem Stottern, seiner Verwirrung, wenn sich seine Zunge verhedderte, seinen Panikattacken an öffentlichen Orten, seinen Zähnen, denen der Nerv gezogen wurde, seinem gelichteten Schopf, seinem schon leicht gekrümmten Rücken und allem, was er unterwegs verloren hatte, weil er in einem anderen Jahrhundert auf die Welt gekommen war. Aufgewachsen ohne Fernsehen, ohne Zeitungen, ohne Ausgang, ohne Humor und vor allem ohne das geringste Wohlwollen für die Welt um ihn herum.

 

Er erteilte Anstandsunterricht, Benimmregeln, rief gute Manieren in Erinnerung und die Sitten und Gebräuche dieser Welt, wozu er das Handbuch seiner Großmutter auswendig aufsagte:

»Generöse und feinfühlige Gemüter befleißigen sich in Anwesenheit des Gesindes niemals eines Vergleichs, der selbiges herabsetzen könnte. Zum Beispiel: ›Soundso benimmt sich wie ein Lakai.‹ Die Grandes Dames der damaligen Zeit zeugten nicht gerade von derartiger Sensibilität, werden Sie sagen, und ich weiß, daß eine Herzogin aus dem 18. Jahrhundert in der Tat ihre Leute bei jeder Hinrichtung mit den Worten zur Place de Grève zu schicken pflegte: ›In die Schule mit euch!‹

Heute achten wir die Würde des Menschen und die berechtigte Empfindsamkeit der kleinen und einfachen Leute weitaus mehr. Dies gereicht unserer Zeit zur Ehre.

 

Dennoch! fügte er bekräftigend hinzu, die Höflichkeit des Herrn gegenüber seinem Diener darf nicht zu gemeiner Vertraulichkeit verkommen. Zum Beispiel ist nichts vulgärer, als sich den Klatsch seiner Leute anzuhören.«

 

Und wieder wurde gelacht. Auch wenn uns nicht zum Lachen war.

 

Anschließend sprach er altgriechisch, rezitierte viele Gebete auf Latein und räumte ein, daß er Die große Sause nie gesehen habe, weil darin die Geistlichen verspottet wurden.

»Ich glaube, ich bin der einzige Franzose, der Die große Sause nie gesehen hat, oder?«

Freundliche Stimmen beruhigten ihn: Nein, nein. Bist nicht allein.

 

»Zum Glück geht es … mir besser. Ich … Ich habe die Zugbrücke heruntergelassen, glaube ich. Und ich … ich habe meine Ländereien verlassen, um das Leben zu lieben. Ich habe Menschen kennengelernt, die viel nobler sind als ich, und ich … Na ja. Einige von ihnen sitzen hier im Saal, und ich möchte sie ni… nicht in Ve… Verlegenheit bringen.«

 

Da er sie anschaute, drehten sich alle zu Franck und Camille, die verzweifelt versuchten, den rrr… hmm … den Kloß hinunterzuschlucken, den sie plötzlich im Hals verspürten.

Denn dieser Kerl, der das alles erzählte, dieser lange Lulatsch, der alle mit seinen Nöten zum Lachen brachte, war ihr Philou, ihr Schutzengel, ihr SuperNesquick, den der Himmel geschickt hatte. Der sie gerettet und seine langen hageren Arme um ihre entmutigten Rücken geschlungen hatte.

 

Während das Publikum applaudierte, zog er sich wieder an. Jetzt stand er in Frack und Zylinder vor ihnen.

»Nun ja. Ich habe alles gesagt, glaube ich. Ich hoffe, Sie mit diesen verstaubten Geschichten nicht allzusehr gelangweilt zu haben. Sollte dies bedauerlicherweise der Fall sein, bitte ich Sie, mir zu verzeihen und ihr Beileid dieser loyalen Dame mit den rosa Haaren auszusprechen, da sie es war, die mich gezwungen hat, heute vor Sie zu treten. Ich verspreche Ihnen, ich werde es nicht noch einmal tun, aber eh …«

Er schwenkte seinen Stock in Richtung Kulissen, und sein Page kam mit einem Paar Handschuhe und einem Blumenstrauß zurück.

 

»Man beachte die Farbe«, fügte er hinzu, während er sie überstreifte, »creme. Mein Gott, ich bin ein unverbesserlicher Reaktionär. Wo war ich noch? Ach ja! Die rosa Haare. Ich … Ich weiß, daß Monsieur und Madame Martin, die Eltern von Mademoiselle aus Belleville, im Saal sitzen, und ich … ich … ich … ich …«

Er kniete nieder:

»Ich … ich stottere, nicht wahr?«

Lachen.

»Ich stottere, und das ist ausnahmsweise auch einmal ganz normal, denn ich halte um die Hand Ihrer To…«

In diesem Moment schoß eine Kanonenkugel über die Bühne und stieß ihn um. Sein Gesicht verschwand unter einem Berg von Tüll, und man hörte nur:

»Hiiiiiiiiiii, ich werd Marquiiiiiiiii-se!!!«

 

Mit verrutschter Brille stand er wieder auf und hielt sie auf dem Arm:

»Eine vortreffliche Eroberung, finden Sie nicht?«

Er lächelte.

»Meine Ahnen können stolz auf mich sein.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

11

 

 

 

Camille und Franck blieben nicht zum anschließenden Silvesterumtrunk der Truppe, denn sie durften den Zack um 23:58 Uhr nicht verpassen.

Diesmal saßen sie nebeneinander und waren kaum gesprächiger als auf der Hinfahrt.

Zu viele Bilder, zu viele Erschütterungen.

»Glaubst du, er kommt heute abend nach Hause?«

»Mmm. Sie scheint es mir mit der Etikette nicht so genau zu nehmen.«

»Das ist verrückt, oder?«

»Total verrückt.«

»Kannst du dir die Visage der Marie-Laurence vorstellen, wenn sie ihre künftige Schwiegertochter zum ersten Mal sieht?«

»Meiner Meinung nach dürfte das nicht so schnell der Fall sein.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich weiß nicht. Weibliche Intuition. Neulich im Schloß, als wir nach dem Essen mit Paulette spazieren waren, sagte er plötzlich bebend vor Wut: ›Könnt ihr euch das vorstellen? Es ist Ostern, und sie haben für Blanche nicht einmal Eier versteckt.‹ Mag sein, daß ich mich irre, aber ich hatte das Gefühl, das war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Ihn haben sie ja reichlich schikaniert, ohne daß er es ihnen besonders übelzunehmen schien, aber das hier. Keine Eier für die Kleine zu verstecken, das war zuviel des Guten. Ich hatte das Gefühl, er sucht jetzt ein Ventil für seinen Zorn, indem er finstere Maßnahmen ergreift. Um so besser, meinst du? Recht hast du: Sie haben ihn nicht verdient.«

 

Franck schüttelte den Kopf, und sie ließen es dabei bewenden. Denn sonst wären sie gezwungen gewesen, ins Futur zu wechseln (Und wenn sie heiraten, wo werden sie leben? Und wir, wo werden wir leben? etc.), und zu dieser Art Unterhaltung waren sie nicht bereit. Zu riskant. Zu halsbrecherisch.

 

Franck bezahlte Madame Perreira, während Camille Paulette die Neuigkeit verkündete, dann aßen sie eine Kleinigkeit im Salon und hörten dabei erträglichen Techno.

»Das ist kein Techno, das ist Elektro.«

»Oh, Verzeihung.«

 

Tatsächlich kam Philibert in dieser Nacht nicht nach Hause, und die Wohnung erschien ihnen schrecklich leer. Sie freuten sich für ihn und trauerten für sich. Ein übler Nachgeschmack von Verlassenheit stieg ihnen in die Kehle.

Philou.

 

Sie brauchten keine Worte, um ihre Beklemmung zum Ausdruck zu bringen. Ausnahmsweise hatten ihre Antennen besten Empfang.

Sie nahmen die Hochzeit ihres Freundes zum Anlaß, sich über allerlei Hochprozentiges herzumachen, und stießen auf die Gesundheit aller Waisenkinder dieser Welt an. Ihrer gab es so viele, daß sie diesen bewegten Abend mit einem kräftigen Rausch beschlossen.

Kräftig und bitter.

 

 

 

 

 

 

 

 

12

 

 

 

Marquet de la Durbellière, Philibert Jehan Louis-Marie Georges, geboren am 27. September 1967 in La Roche-sur-Yon (Vendée), ehelicht Martin, Suzy, geboren am 5. Januar 1980 in Montreuil (Seine-Saint-Denis), im Standesamt des 20. Arrondissements von Paris am ersten Montag im Juni 2004, unter den bewegten Blicken seiner Trauzeugen Lestafier, Franck Germain Maurice, geboren am 8. August 1970 in Tours (Indre-et-Loire), und Fauque, Camille Marie Elisabeth, geboren am 17. Februar 1977 in Meudon (Hauts-de-Seine), und in Anwesenheit von Lestafier, Paulette, die sich weigert, ihr Alter anzugeben.

 

Des weiteren waren anwesend die Eltern der Braut sowie ihr bester Freund, ein großer Kerl mit gelben Haaren, der kaum weniger auffiel als sie.

 

Philibert trug einen herrlichen Anzug aus weißem Leinen sowie ein rosa Einstecktuch mit grünen Punkten.

Suzy trug einen herrlichen rosa Minirock mit grünen Punkten und einer Turnüre sowie eine Schleppe von mindestens zwei Metern Länge. »Mein Traum!« wiederholte sie immer wieder lachend.

Sie lachte immerzu.

Franck trug den gleichen Anzug wie Philibert, nur karamelfarben. Paulette trug einen von Camille konfektionierten Hut, eine Art Nest mit Vögeln und Federn überall, und Camille trug eins der weißen Smokinghemden von Philiberts Großvater, das ihr bis zu den Knien reichte. Sie hatte sich eine Krawatte um die Taille gebunden und weihte ein Paar hübsche rote Sandalen ein. Es war das erste Mal, daß sie einen Rock trug, seit … Pff … noch länger.

 

Anschließend zog die feine Gesellschaft zum Picknick in den Park von Buttes-Chaumont. Im Gepäck der große Korb der Durbellière als Caterer und ein paar kleinere Tricks, um von den Parkhütern nicht entdeckt zu werden.

 

Philibert zog mit einem Hunderttausendstel seiner Bücher in die Zweizimmerwohnung seiner Gattin, die nicht eine Sekunde erwogen hatte, ihr geliebtes Viertel zu verlassen, um sich auf der anderen Seite der Seine einem Begräbnis erster Klasse zu unterziehen.

Das zeigte, wie egal ihr seine Herkunft war, und es zeigte, wie sehr er sie liebte.

 

Er hatte dennoch sein Zimmer behalten, und dort schliefen sie, wann immer sie zum Abendessen kamen. Philibert nutzte die Gelegenheit, um Bücher zurückzubringen und neue mitzunehmen, und Camille nutzte die Gelegenheit, um weiter an Suzys Porträt zu arbeiten.

Sie hatte noch nicht das richtige Gespür für sie. Noch eine, die sich nicht einfangen ließ. Berufsrisiko eben.

 

Philibert stotterte nicht mehr, stellte jedoch das Atmen ein, sobald sie aus seinem punctum remotum verschwand.

Und wenn sich Camille über die Geschwindigkeit wunderte, mit der sie sich gebunden hatten, sahen sie sie seltsam an. Worauf denn warten? Warum Zeit verlieren in ihrem Glück? Total bescheuert, was du da sagst.

Sie schüttelte den Kopf, skeptisch und gerührt, während Franck sie verstohlen betrachtete.

 

Laß gut sein, das verstehst du nicht. Das verstehst du nicht. Du bist total verklemmt. Nur deine Bilder sind schön. Im Innern bist du völlig verkrampft. Wenn ich daran denke, daß ich geglaubt habe, du wärst lebendig. Scheiße, an dem Abend muß ich voll drauf gewesen sein, daß ich so danebenliegen konnte. Ich dachte, du wärst gekommen, um mich zu lieben, dabei warst du nur ausgehungert. Wie dumm ich war, also wirklich.

Weißt du, was du brauchst? Du brauchst jemanden, der dir den Kopf ausschabt, so wie man ein Huhn ausnimmt, und der dir die ganze Scheiße, die du da drin hast, ein für allemal rausholt. Der muß ganz schön was draufhaben, der Typ, der es schafft, dich auseinanderzunehmen. Nicht gesagt, daß es ihn überhaupt gibt. Philou sagt, daß du deshalb so gut malst, weil du so bist, tja, dann ist das ein verdammt hoher Preis.

 

»Na, Franck?« rüttelte Philibert ihn auf, »du hängst wohl gerade in den Seilen.«

»Müde.«

»Komm schon. Bald hast du Urlaub.«

»Pff. Ich muß noch den ganzen Juli überstehen. Ach ja, ich geh schlafen, ich muß morgen früh raus: Ich muß die Damen ins Grüne ausführen.«

 

Sommer auf dem Land. Die Idee stammte von Camille, aber Paulette hatte nichts dagegen. War nicht sonderlich enthusiastisch, die Gute. Aber dafür. Sie war bei allem dafür unter der Bedingung, daß man sie zu nichts zwang.

 

Als sie ihm den Plan verkündete, begann Franck allmählich, sich damit abzufinden.

 

Sie konnte weit weg von ihm leben. Sie war nicht verliebt und würde es niemals sein. Sie hatte ihn überdies gewarnt: »Danke, Franck. Ich auch nicht.« Der Rest war sein Problem, wenn er sich für stärker hielt als sie und für stärker als die ganze Welt. Nix da, Junge, du bist nicht der Stärkste. Oh nein. Dabei habe ich es dir oft genug eingetrichtert. Aber du bist ja so ein Dickschädel, so ein Angeber.

 

Du warst noch nicht auf der Welt, da war dein Leben schon ein Haufen Scheiße, weshalb sollte sich das ändern? Was hast du denn gedacht? Nur, weil du sie von ganzem Herzen flachgelegt hast und lieb zu ihr warst, würde dir das Glück gebraten in den Mund flie

gen? Pff. Armselig. Sieh sie dir an, deine Spielchen. Wohin sollten sie dich führen, was meinst du? Wohin wolltest du? Mal ehrlich.

 

Sie trug ihre Tasche und Paulettes Koffer in die Diele und ging zu ihm in die Küche.

»Ich hab Durst.«

»…«

»Schmollst du? Ärgert es dich, daß wir verreisen?«

»Überhaupt nicht! Ich werd hier meinen Spaß haben.«

Sie stand auf und nahm seine Hand:

»Los, komm schon.«

»Wohin?«

»Ins Bett.«

»Mit dir?«

»Na klar!«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Keine Lust. Du bist nur zärtlich, wenn du genug getankt hast. Du spielst ein falsches Spiel mit mir, darauf hab ich keinen Bock mehr.«

»Gut.«

»Du sagst nicht hü und nicht hott. Das ist eine fiese Tour.«

»…«

»Echt fies.«

»Aber ich fühle mich wohl bei dir.«

»›Aber ich fühle mich wohl bei dir‹«, äffte er sie nach. »Mir ist scheißegal, ob du dich bei mir wohl fühlst. Ich will nur, daß du mit mir zusammen bist, fertig. Den Rest … Deine Spielchen, deine künstlerischen Allüren, die kleinen Vereinbarungen zwischen deinem Hintern und deinem Gewissen kannst du dir für einen anderen Deppen aufheben. Dieser hier hat alles gegeben. Mehr holst du aus ihm nicht raus, die Geschichte kannst du vergessen, Prinzessin.«

»Du hast dich verliebt, stimmt’s?«

»Du kannst mich mal, Camille! Stimmt’s? Du tust ja so, als wär ich unheilbar krank! Scheiße, ein bißchen Taktgefühl, bitte, ja? Ein bißchen Anstand! Das hier hab ich trotz allem nicht verdient! Daß du dich jetzt verpißt, wird mir guttun. Warum laß ich mir auch von einer Tussi, die scharf darauf ist, zwei Monate allein mit einer Alten am Arsch der Welt rumzuhängen, auf der Nase rumtanzen? Du bist nicht normal, und wenn du nur einen Hauch von Anstand hättest, würdest du dich behandeln lassen, anstatt dich an den erstbesten Blödmann zu hängen, der deinen Weg kreuzt.«

»Paulette hat recht. Kaum zu glauben, wie unflätig du bist.«

 

Die Fahrt am nächsten Morgen wirkte hmm … ziemlich lang.

 

Er ließ ihnen das Auto da und fuhr mit seiner alten Mühle zurück.

»Kommst du nächsten Samstag?«

»Wozu?«

»Eh, um dich auszuruhen.«

»Mal sehen.«

»Und wenn ich dich darum bitte?«

»Mal sehen.«

»Gibt’s kein Küßchen?«

»Nein. Am nächsten Samstag werd ich dich vögeln, wenn ich nichts Besseres zu tun habe, aber Küßchen gibt’s keine mehr.«

»Okay.«

Er verabschiedete sich von seiner Großmutter und verschwand am Ende der Straße.

 

Camille kehrte zu ihren großen Farbtöpfen zurück. Sie versuchte sich jetzt als Innenarchitektin.

Sie dachte nach, aber nein. Holte ihre Pinsel aus dem Terpentinersatz und wischte sie langsam ab. Er hatte recht: mal sehen.

 

Und das Leben ging weiter. Wie in Paris, nur langsamer. Und in der Sonne.

 

Camille machte die Bekanntschaft eines englischen Pärchens, das das Nachbarhaus herrichtete. Sie tauschten Sachen aus, Kniffe, Werkzeug und Gläser mit Gin Tonic zu einer Zeit, da sich die Mauersegler austobten.

 

Sie gingen ins Museum der Schönen Künste in Tours, Paulette wartete unter einer riesigen Zeder (zu viele Treppen), während Camille den Garten, die wunderschöne Frau und den Enkel des Malers Edouard Debat-Ponsan kennenlernte. Dieser stand nicht im Lexikon. Genausowenig wie Emmanuel Lansyer, dessen Museum in Loches sie ein paar Tage zuvor besucht hatten. Camille mochte die Maler, die nicht im Lexikon aufgeführt waren. Die kleinen Meister, wie es heißt. Die Regionalmatadore, deren bevorzugte Ausstellungsorte die Städte waren, in denen sie sich niedergelassen hatten. Der erste wird für alle Zeit der Großvater von Olivier Debré bleiben, der zweite der Schüler von Corot. Pah! Ohne den Nimbus des Genies und ohne geistige Erben, ihre Bilder konnte man beruhigter mögen. Und vielleicht auch aufrichtiger.

 

Camille fragte sie ständig, ob sie nicht zur Toilette müsse. Es war schon blöd, diese Sache mit der Inkontinenz, aber sie klammerte sich an die Vorstellung, sie zurückhalten zu können. Die alte Frau hatte sich ein-, zweimal gehenlassen, und sie hatte ausgiebig mit ihr geschimpft:

»Oh, nein, liebe Paulette, alles, was Sie wollen, aber das nicht! Ich bin ganz für Sie da! Sagen Sie mir Bescheid! Bleiben Sie bei mir, Herrgott noch mal! Was soll das denn, in die Hose zu kacken? Sie sind doch nicht in einem Käfig eingesperrt?«

»…«

»He! Ho! Paulette! Antworten Sie mir. Werden Sie jetzt auch noch taub?«

»Ich wollte dich nicht bemühen.«

»Lügnerin! Sie wollten sich nicht bemühen!«

 

Den Rest der Zeit gärtnerte, bastelte, arbeitete sie, dachte an Franck und las – endlich – Das Alexandria-Quartett. Laut zuweilen. Um sie einzustimmen. Dazu erzählte sie ihr außerdem Opernhandlungen.

 

»Hören Sie, das hier ist wunderschön. Rodrigo schlägt seinem Freund vor, zusammen mit ihm im Krieg zu sterben, damit er vergißt, daß er in Elisabeth verliebt ist.

Moment, ich stell es mal etwas lauter. Hören Sie das Duett, Paulette? Dio, che nel’alma infondere«, trällerte sie und machte ihr Handgelenk geschmeidig, na ninana ninana.

»Schön ist das, oder?«

Sie war eingeschlafen.

 

Franck kam am Wochenende nicht, aber sie erhielten Besuch von den beiden Unzertrennlichen, Monsieur und Madame Marquet.

 

Suzy hatte ihr Yogakissen in die Gräser gelegt, und Philibert las in einem Liegestuhl Reiseführer über Spanien, wohin sie in der nächsten Woche auf Hochzeitsreise wollten.

»Zu Juan Carlos. Meinem angeheirateten Cousin.«

»Das hätte ich mir ja denken können«, lächelte Camille.

»Aber … Und Franck? Ist er nicht da?«

»Nein.«

»Mit dem Motorrad unterwegs?«

»Keine Ahnung.«

»Willst du damit sagen, daß er in Paris geblieben ist?«

»Das denke ich mir.«

»Ach, Camille«, er war bekümmert.

»Was, Camille?« regte sie sich auf. »Was denn? Du selbst hast mir doch schon ganz zu Anfang gesagt, wie unmöglich er ist. Daß er noch nie was anderes gelesen hat als die Kleinanzeigen in seinen Motorradheften, daß … daß …«

»Schhh. Beruhige dich. Ich mache dir ja keine Vorwürfe.«

»Nein, schlimmer.«

»Ihr habt so glücklich ausgesehen.«

»Ja. Genau deswegen. Belassen wir es dabei. Machen wir nicht alles kaputt.«

»Glaubst du denn, es ist wie bei deinen Stiften? Glaubst du, daß sie sich bei Gebrauch abnutzen?«

»Was denn?«

»Die Gefühle?«

 

»Wann hast du das letzte Mal ein Selbstporträt gemacht?«

»Warum fragst du?«

»Wann?«

»Lange her.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Das hat damit nichts zu tun.«

»Nein, natürlich nicht.«

 

»Camille?«

»Mmm.«

»Am 1. Oktober um acht Uhr morgens.«

»Ja?« Er reichte ihr den Brief von Herrn Buzot, Notar in Paris.

 

Camille las ihn, gab ihn zurück und legte sich zu seinen Füßen ins Gras.

 

»Pardon?«

»Es war zu schön, um von Dauer zu sein.«

»Es tut mir leid.«

»Hör auf.«

»Suzy liest die Anzeigen in unserem Viertel. Dort ist es nicht schlecht, weißt du? Es ist … es ist pittoresk, wie mein Vater sagen würde.«

»Hör auf. Und Franck, weiß er Bescheid?«

»Noch nicht.«

 

Er kündigte sich für die darauffolgende Woche an.

»Fehl ich dir so?« schäkerte Camille am Telefon.

»Nee. Ich muß was an meinem Motorrad machen. Hat Philibert dir den Brief gezeigt?«

»Ja.«

»…«

»Denkst du an Paulette?«

»Ja.«

»Ich auch.«

»Wir haben Jojo mit ihr gespielt. Wir hätten sie besser da gelassen, wo sie war.«

»Meinst du das ernst?« fragte Camille. »Nein.«

 

 

 

13

 

 

 

Die Woche verging.

Camille wusch sich die Hände und kehrte in den Garten zurück, wo Paulette in ihrem Rollstuhl saß und sich sonnte.

Sie hatte eine Quiche gemacht. Vielmehr eine Art Mürbeteig mit ausgelassenem Speck. Vielmehr etwas zu essen.

 

Wie ein Heimchen, das auf seinen Mann wartet.

 

Sie lag schon wieder auf den Knien und grub in der Erde, als ihre alte Kameradin hinter ihr flüsterte:

»Ich habe ihn umgebracht.«

»Pardon?«

Mist.

In letzter Zeit redete sie immer mehr Stuß.

 

»Maurice, meinen Mann. Ich habe ihn umgebracht.«

 

Camille richtete sich auf, drehte sich jedoch nicht um.

 

»Ich war in der Küche, auf der Suche nach meinem Portemonnaie, um Brot zu holen, als ich … ihn habe fallen sehen. Er war schwer herzkrank, weißt du. Er röchelte, er stöhnte, sein Gesicht war … Ich … ich habe meine Jacke übergezogen und bin gegangen.

Ich habe mir ganz viel Zeit gelassen, bin vor jedem Haus stehengeblieben. Und wie geht’s dem Kleinen? Und dem Rheuma? Besser? Ein Gewitter im Anzug, haben Sie gesehen? Ich, die ich nicht sehr gesprächig bin, war an diesem Morgen äußerst liebenswürdig. Und das schlimmste ist, ich habe auch noch einen Lottoschein ausgefüllt. Kannst du dir das vorstellen? Als wäre es mein Glückstag. Gut, und dann. Dann bin ich doch nach Hause gegangen, und er war tot.«

Stille.

»Ich habe meinen Lottoschein weggeworfen, weil ich nie die Unverfrorenheit besessen hätte, die Gewinnzahlen abzugleichen, und habe die Feuerwehr angerufen. Oder die Sanitäter. Ich weiß nicht mehr. Aber es war zu spät. Ich hatte es gewußt.«

Stille.

»Du sagst gar nichts?«

»Nein.«

»Warum sagst du nichts?«

»Weil ich denke, daß seine Zeit gekommen war.«

»Meinst du?« fragte sie flehentlich.

»Da bin ich ganz sicher. Ein Herzinfarkt ist ein Herzinfarkt. Sie haben mir einmal gesagt, er habe fünfzehn Jahre Gnadenfrist gehabt. Tja, die hat er bekommen.«

Und um ihr zu zeigen, wie ehrlich sie es meinte, machte sie sich wieder an die Arbeit, als sei nichts gewesen.

 

»Camille?«

»Ja?«

»Danke.«

 

Als sie sich gut eine halbe Stunde später wieder aufrichtete, lächelte Paulette im Schlaf.

Sie holte ihr eine Decke.

 

Dann drehte sie sich eine Zigarette.

Dann säuberte sie sich mit einem Streichholz die Fingernägel.

Dann sah sie nach ihrer »Quiche«.

Dann putzte sie drei kleine Salatköpfe und etwas Schnittlauch.

Dann wusch sie alles.

Dann schenkte sie sich ein Glas Weißwein ein.

Dann ging sie unter die Dusche.

Dann zog sie sich einen Pullover über und ging wieder in den Garten.

Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter:

»Sie werden sich erkälten, Paulette.«

Sie schüttelte sie sanft:

»Paulette?«

 

Noch nie war ihr ein Bild so schwergefallen.

Sie machte nur eins.

Das Allerschönste vielleicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

14

 

 

 

Es war schon nach eins, als Franck das ganze Dorf weckte.

 

Camille war in der Küche.

 

»Schon wieder am Picheln?«

 

Er legte seine Jacke auf einen Stuhl und holte sich ein Glas aus dem Schrank über seinem Kopf.

»Bleib sitzen.«

 

Er setzte sich ihr gegenüber:

»Ist sie schon im Bett, meine Omi?«

»Sie ist im Garten.«

»Im Gar…«

Und als Camille aufsah, wurde er bleich.

»Oh nein, verdammt! Nein!«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

15

 

 

 

»Und die Musik? Haben Sie bestimmte Vorlieben?«

Franck drehte sich zu Camille.

Sie weinte.

»Du suchst uns was Schönes aus, oder?«

Sie nickte.

»Und die Urne? Haben … Sie sich die Preisliste angeschaut?«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

16

 

 

 

Camille hatte nicht die Kraft, in die Stadt zurückzufahren, um die richtige CD zu suchen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sie finden würde. Und außerdem fehlte ihr dazu die Kraft.

 

Sie holte die Kassette, die noch im Autoradio steckte, und hielt sie dem Herrn vom Krematorium hin.

»Und es ist nichts zu machen?«

»Nein.«

 

Denn das hier war nun mal ihr Liebling. Der Beweis: Er hatte sogar ein Lied ganz für sie allein gesungen, na also.

 

Camille hatte die Kassette zusammengestellt, um sich für den schrecklichen Pullover zu bedanken, den Paulette ihr diesen Winter gestrickt hatte, und neulich auf der Rückfahrt von den Gärten von Villandry hatten sie ihm ehrfürchtig gelauscht.

Sie hatte sie im Rückspiegel lächeln sehen.

 

Wenn dieser große junge Mann sang, war sie wieder zwanzig.

1952 hatte sie ihn gesehen, als es neben den Kinos noch eine Music-Hall gab.

»Ach, war er schön«, seufzte sie, »so schön.«

 

Also übertrugen sie Seiner Exzellenz Yves Montand die Aufgabe, die Grabrede zu halten.

 

Und das Requiem …

 

Quand on partait de bon matin, quand on partait sur les chemins, A bicy-clèèè-teu,

Nous étions quelques bons copains,

Y avait Fernand, y avait Firmin, y avait Francis et Sébastien,

Et puis Pau-lèèè-teu …

 

On était tous amoureux d’elle, on se sentait pousser des ailes,

A bicy-clèèè-teu …

 

Ja, in Paullette waren alle verliebt gewesen.

 

Und Philou, der nicht einmal da war.

Der in seine Luftschlösser nach Spanien gefahren war.

Franck hielt sich sehr gerade, die Hände auf dem Rücken.

Camille weinte.

 

La, la, la … Mine de rien,

La voilà qui revient,

La chanso-nnet-teu …

Elle avait disparu,

Le pavé de ma rue,

Était tout bê-teu …

 

Les titis, les marquis

C’est parti mon kiki …

 

Sie lächelte, die Straßenjungen, die Marquis … Das sind doch wir.

 

La, la, la, haut les cœurs

Avec moi tous en chœur …

La chanso-nnet-teu …

 

Madame Carminot spielte schniefend mit ihrem Rosenkranz.

 

Wie viele waren sie in dieser falschen Kapelle aus falschem Marmor?

Zehn vielleicht?

Außer den Engländern nur Alte.

Vor allem alte Frauen.

Vor allem alte Frauen, die traurig den Kopf schüttelten.

Camille legte ihren Kopf auf Francks Schulter, der weiterhin seine Finger knetete.

 

Trois petites notes de musique,

Ont plié boutique,

Au creux du souvenir …

C’en est fini d’leur tapage,

Elles tournent la page,

Et vont s’endormir …

 

Der Herr mit dem Schnurrbart machte Franck ein Zeichen.

Er nickte.

 

Die Ofentür öffnete sich, der Sarg wurde hineingerollt, die Tür schloß sich wieder und … Puffffff …

Paulette verzehrte sich ein letztes Mal zu den Klängen ihres geliebten Herzensbrechers.

 

 … Und zog davon … geschwind … in die Sonne … in den Wind.

 

Alle umarmten sich. Die Alten versicherten Franck noch einmal, wie sehr sie seine Großmutter gemocht hätten. Und er lächelte. Und preßte die Backenzähne aufeinander, um nicht loszuheulen.

 

Man ging auseinander. Ein Herr ließ ihn noch Papiere unterschreiben, ein anderer hielt ihm eine schwarze Schachtel hin.

Sehr hübsch. Sehr chic.

Die im Schein der künstlichen Kronleuchter mit verstellbarer Leuchtkraft glänzte.

Zum Kotzen.

 

Yvonne lud sie zu einem kleinen Stärkungstrunk ein.

»Nein, danke.«

»Sicher?«

»Sicher«, antwortete Franck und hakte sie unter.

 

Und schon waren sie auf der Straße.

Ganz allein.

Zu zweit.

 

Eine Frau von etwa fünfzig Jahren sprach sie an.

Und lud sie zu sich ein.

Sie folgten ihr zum Auto.

Sie wären jedem gefolgt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

17

 

 

 

Sie kochte ihnen einen Tee und holte einen Sandkuchen aus dem Ofen.

Sie stellte sich vor. Sie war die Tochter von Jeanne Louvel.

Damit konnte er nichts anfangen.

»Das ist klar. Als ich in das Haus meiner Mutter zog, waren Sie schon lange weg.«

 

Sie ließ sie in Ruhe essen und trinken.

Camille ging in den Garten, um eine zu rauchen. Ihre Hände zitterten.

Als sie sich wieder zu den anderen setzte, holte ihre Gastgeberin eine große Schachtel.

»Warten Sie. Ich suche sie Ihnen heraus. Ah! Da ist sie. Hier.«

 

Es war ein winziges Foto, beige mit gezacktem Rand und einer förmlichen Unterschrift unten rechts.

 

Zwei junge Frauen. Die rechte lachte und blickte in den Apparat, die linke schlug unter einem schwarzen Hut die Augen nieder.

Beide waren kahlköpfig.

»Erkennen Sie sie?«

»Pardon?«

»Das hier ist Ihre Großmutter.«

»Das hier?«

»Ja. Das daneben ist meine Tante Lucienne. Die älteste Schwester meiner Mutter.«

Franck hielt Camille das Foto hin.

»Meine Tante war Grundschullehrerin. Es heißt, sie sei das schönste Mädchen der ganzen Gegend gewesen. Es hieß auch, daß sie ziemlich arrogant war, die Gute. Sie war sehr gebildet und hat seine Hand mehrmals ausgeschlagen, tja, ein arrogantes Mädchen eben. Am 3. Juli 1945 erklärte Rolande F. ihres Zeichens Schneiderin – meine Mutter kannte die Niederschrift auswendig … Ich habe gesehen, wie sie sich amüsiert hat, sie hat gelacht und gescherzt und einmal sogar mit ihnen (den deutschen Soldaten) im Badeanzug auf dem Schulhof Wasserspritzen gespielt.«

Stille.

 

»Haben sie sie geschoren?« fragte Camille schließlich.

»Ja. Meine Mutter hat erzählt, sie sei tagelang völlig am Boden gewesen, und eines Morgens sei ihre gute Freundin Paulette Mauguin gekommen, um sie abzuholen. Sie hatte sich den Kopf mit dem Säbel ihres Vaters rasiert und stand lachend vor der Tür. Sie hat sie bei der Hand genommen und darauf bestanden, mit ihr in die Stadt zu gehen, zu einem Fotografen. ›Na, komm schon‹, hat sie zu ihr gesagt, ›dann haben wir eine schöne Erinnerung. Komm schon! Tu ihnen nicht den Gefallen. Los. Nimm den Kopf hoch, Lulu. Du bist mehr wert als sie.‹ Meine Tante traute sich nicht ohne Hut auf die Straße und weigerte sich, diesen beim Fotografen abzusetzen, aber Ihre Großmutter. Sehen Sie sich das an. Diesen schelmischen Blick. Wie alt sie wohl damals war? Zwanzig?«

»Sie ist im November 1921 geboren.«

»Dreiundzwanzig. Ein mutiges Mädchen, nicht? Hier, ich schenke es Ihnen.«

»Danke«, antwortete Franck, und seine Lippen bebten.

 

Sobald sie auf der Straße waren, drehte er sich zu ihr und sagte stolz:

»Das war schon jemand, meine Omi, oder?«

Und er fing an zu weinen.

Endlich.

 

»Meine Omi«, schluchzte er. »Meine liebe Omi. Die einzige, die ich auf der Welt hatte.«

 

Camille blieb plötzlich stehen, rannte zurück und holte den schwarzen Karton.

 

Er schlief auf dem Sofa und stand am nächsten Tag sehr früh auf.

 

Von ihrem Fenster aus konnte Camille sehen, wie er über dem Mohn und den Duftwicken ein feines Pulver verstreute.

 

Sie traute sich nicht, sofort zu ihm zu gehen, und als sie endlich beschloß, ihm einen heißen Kaffee zu bringen, hörte sie sein Motorrad davonfahren.

 

Die Schale mit dem Kaffee ging zu Boden, und sie brach über dem Küchentisch zusammen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

18

 

 

 

Einige Stunden später stand sie auf, schneuzte sich, duschte kalt und kehrte zu ihren Farbtöpfen zurück.

Sie hatte angefangen, dieses verfluchte Haus neu zu streichen, und sie würde ihre Arbeit zu Ende bringen.

 

Sie hörte FM und verbrachte die nächsten Tage auf einer Leiter.

 

Ungefähr alle zwei Stunden schickte sie Franck eine SMS, um ihn darüber zu informieren, wo sie sich gerade befand:

 

09:13 Indochina, über der Anrichte

11:37 Aicha, Aicha, erhöre mich, Fensterrahmen

13:44 Souchon, Kippe im Garten

16:12 Nougaro, Decke

19:00 Nachrichten, Schinkenbrot

10:15 Beach Boys, Badezimmer

11:55 Bénabar, ich bin’s, Nathalie, nicht weitergekommen

15:03 Sardou, Pinsel gereinigt

21:23 Daho, Heiabett

 

Er antwortete ihr nur ein einziges Mal:

01:16 Ruhe

 

Wollte er damit sagen: Schichtende, Frieden, Ruhe, oder wollte er sagen: Klappe?

Da sie im Zweifel war, schaltete sie ihr Handy aus.

 

 

19

 

 

 

Camille schloß die Läden, verabschiedete sich von … den Blumen, streichelte die Katze und schloß die Augen.

 

Ende Juli.

Paris erstickte.

 

In der Wohnung war es still. Als hätten sie sie schon vertrieben.

Hop, hop, hop, sagte sie zu ihr, ich muß noch etwas zu Ende bringen.

 

Sie kaufte ein wunderschönes Heft, klebte auf die erste Seite die alberne Charta, die sie einen Abend im La Coupole geschrieben hatten, sammelte all ihre Bilder zusammen, ihre Pläne, ihre Skizzen etc. um sich an alles zu erinnern, was sie hinter sich ließen und was im selben Atemzug verschwinden würde.

Es war Platz genug, um auf diesem großen Boot zehn Luxus-Kaninchenställe zu bauen.

 

Anschließend wollte sie zunächst das Nachbarzimmer leeren.

Dann.

Wenn die Haarspangen und die Tube Polident ebenfalls weg wären …

 

Als sie ihre Bilder sortierte, legte sie das Porträt ihrer Freundin auf die Seite.

Bisher war sie von der Idee einer Ausstellung nicht sehr erbaut gewesen, doch allmählich … allmählich wurde sie zu einer fixen Idee: sie wieder zum Leben zu erwecken. An sie zu denken, über sie zu reden, ihr Gesicht, ihren Rücken, ihren Hals, ihre Hände zu zeigen. Sie bedauerte, daß sie nicht aufgezeichnet hatte, was Paulette beispielsweise an Kindheitserinnerungen erzählt hatte. Oder von ihrer großen Liebe.

»Das bleibt unter uns, hörst du?«

»Ja, ja.«

»Tja, er hieß Jean-Baptiste. Ein schöner Vorname, findest du nicht? Wenn ich einen Sohn gehabt hätte, ich hätte ihn Jean-Baptiste genannt.«

Noch hatte sie den Klang ihrer Stimme im Ohr, aber … Wie lange noch?

 

Da sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, beim Werkeln im Haus Musik zu hören, ging sie in Francks Zimmer, um sich seine Anlage auszuleihen.

 

Sie fand sie nicht.

Aus gutem Grund.

Es war nichts mehr da.

Außer drei Kartons, die an der Wand gestapelt waren.

 

Sie legte den Kopf an die Tür, und das Parkett verwandelte sich in Treibsand.

Nein. Nicht er. Nicht auch noch er.

Sie steckte die Fäuste in den Mund.

Nein. Es fing wieder an. Sie war erneut im Begriff, alle zu verlieren.

Nicht schon wieder, verdammt.

Nicht schon wieder.

 

Sie schlug die Tür zu und rannte ins Restaurant.

»Ist Franck da?« fragte sie außer Atem.

»Franck? Nee, ich glaub nicht«, antwortete ein großer Kerl ziemlich träge.

Sie hielt sich die Nase zu, um nicht loszuheulen.

»Ar… Arbeitet er nicht mehr hier?«

»Nee.«

Sie ließ die Nase los und …

»Das heißt, seit heute abend nicht mehr. Ach. Da ist er ja!«

 

Er kam von seinem Spind und hatte seine gesamte Wäsche zu einer Kugel zusammengerollt.

»Sieh an«, meinte er, als er sie erblickte, »da ist ja unsere Gärtnerin.«

Sie weinte.

»Was ist denn los?«

»Ich dachte, du wärst weg.«

»Morgen.«

»Was?«

»Ich fahre morgen.«

»Wohin?«

»Nach England.«

»Wa… Warum?«

»Erstens, um Urlaub zu machen, und zweitens, um zu arbeiten. Mein Chef hat mir eine Superstelle besorgt.«

»Bekochst du die Königin?« versuchte sie zu scherzen.

»Nee, besser, Chef de Partie in Westminster.«

»Ehrlich?«

»Die absolute Topstelle.«

»Aha.«

»Und wie geht’s dir?«

»…«

 

»Komm, laß uns noch was trinken. Wir werden doch nicht einfach so auseinandergehen.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

20

 

 

 

»Drinnen oder auf der Terrasse?«

»Drinnen.«

 

Unzufrieden sah er sie an:

»Du hast schon wieder alle Kilos verloren, die ich dir angesetzt habe.«

»…«

»Warum gehst du weg?«

»Weil, das hab ich doch gesagt. Das ist eine prima Beförderung und außerdem … eh … Einfach so, halt. Ich kann es mir nicht leisten, in Paris zu leben. Jetzt sagst du wahrscheinlich, ich könnte jederzeit Paulettes Haus verkaufen, aber das kann ich nicht.«

»Ich verstehe.«

»Nein, nein, nicht deswegen. Nicht wegen der Erinnerungen und so. Hm. Nein, es ist nur so, daß … Die Bude gehört mir nicht.«

»Gehört sie deiner Mutter?«

»Nein. Dir.«

»…«

»Paulettes letzter Wille«, fügte er hinzu und zog einen Brief aus seiner Mappe. »Hier, lies selbst.«

 

Mein lieber Franck,

bitte stör dich nicht an meiner krakeligen Schrift, ich sehe nicht mehr gut.

Aber ich sehe durchaus, daß die kleine Camille meinen Garten sehr mag, und das ist der Grund, weshalb ich ihn ihr gern vermachen würde, wenn du keine Einwände hast.

Paß gut auf dich auf, und auch auf sie, wenn du kannst.

Sei ganz fest umarmt.

Omi

 

»Wann hast du den bekommen?«

»Ein paar Tage, bevor … bevor sie gestorben ist. An dem Tag, als Philou mir vom Verkauf der Wohnung erzählt hat. Sie … Sie hat halt verstanden, daß … daß das alles Scheiße war.«

 

Ufff! Das zerrte heftig am Würgeband. Zum Glück kam ein Kellner: »Monsieur?«

»Ein Perrier Zitrone, bitte.«

»Und Mademoiselle?«

»Cognac. Einen doppelten.«

 

»Sie spricht vom Garten, nicht vom Haus.«

»Jaaa. Aber, wir werden doch jetzt nicht feilschen, oder?«

 

»Und du gehst weg?«

»Das hab ich doch gerade gesagt. Meine Fahrkarte hab ich schon.«

»Wann fährst du?«

»Morgen abend.«

 

»Pardon?«

»Ich dachte, du hättest die Schnauze voll davon, für andere zu arbeiten.«

»Natürlich hab ich die Schnauze voll davon, aber was soll ich denn machen?«

 

Camille kramte in ihrer Tasche und holte ihr Heft heraus.

»Nee, nee, das ist vorbei«, wehrte er ab und hielt die Arme vors Gesicht. »Ich bin nicht mehr da, hab ich gesagt.«

Sie blätterte um.

»Sieh mal«, sagte sie und hielt es ihm hin.

»Was ist das für eine Liste?«

»Das sind alle Stellen, die Paulette und ich ausfindig gemacht haben auf unseren Spaziergängen.«

»Was für Stellen?«

»Leere Lokale, in denen du einen eigenen Laden aufmachen könntest. Das ist alles durchdacht, weißt du. Bevor wir die Adressen aufgeschrieben haben, sind wir es beide von vorn bis hinten durchgegangen! Die unterstrichenen sind die besten. Das hier vor allem, das wäre klasse. Ein kleiner Platz direkt hinter dem Pantheon. Ein ehemaliges Café mit viel Charme, ich bin sicher, es würde dir gefallen.«

Sie trank ihren Cognac aus.

 

»Du spinnst ja total. Weißt du, was das kostet, ein Restaurant aufzumachen?«

»Nein.«

»Du spinnst ja total. Na gut. Ich muß los, meine Sachen zusammenpacken. Ich bin heut abend bei Philou und Suzy zum Abendessen, kommst du auch?«

Sie hielt ihn am Arm fest, um ihn am Aufstehen zu hindern.

»Ich habe Geld.«

»Du? Du lebst doch wie eine Bettlerin!«

»Ja, weil ich es nicht anrühren will. Ich will die Flocken nicht, aber dir würde ich sie gern geben.«

»…«

»Weißt du noch, ich habe dir doch erzählt, daß mein Vater bei einer Versicherung war und daß er bei einem … einem Arbeitsunfall gestorben ist, weißt du noch?«

»Ja.«

»Na ja, er hatte alles im voraus geregelt. Er wußte ja, daß er mich verlassen würde, deshalb hat er wenigstens dafür gesorgt, mich abzusichern.«

»Das versteh ich nicht.«

»Eine Lebensversicherung. Auf meinen Namen.«

»Und warum … warum hast du dir dann nie ein Paar anständige Treter gekauft?«

»Sage ich doch, weil ich das Geld nicht will. Es riecht nach Aas. Ich wollte meinen Papa lebend. Nicht das hier.«

»Wieviel?«

»Genug, damit dich ein Banker hofiert und dir einen guten Kredit anbietet, würde ich sagen.«

Sie hatte ihr Heft wieder aufgenommen.

»Warte, ich glaube, ich habe es irgendwo gemalt.«

Er riß es ihr aus den Händen.

 

»Hör auf, Camille. Hör auf damit. Hör auf, dich hinter diesem Scheißheft zu verstecken. Hör auf. Ein einziges Mal wenigstens, bitte.«

Sie betrachtete die Theke.

»He! Ich rede mit dir!«

Sie betrachtete sein T-Shirt.

»Nein, mich. Sieh mich an.«

Sie sah ihn an.

»Warum sagst du nicht einfach: ›Ich will nicht, daß du gehst‹? Ich bin wie du. Mir ist das Geld scheißegal, wenn ich es für mich allein ausgeben soll. Ich … Ich weiß nicht, verdammt! ›Ich will nicht, daß du gehst‹, das kann doch nicht so schwer sein, oder?«

»Ichabsdirschngesagt.«

»Was?«

»Ich hab’s dir schon gesagt.«

»Wann?«

»Am 31. Dezember.«

»Jaaa, aber das zählt nicht. Das war wegen Philou.«

Stille.

 

»Camille?«

Er artikulierte deutlich:

»Ich … will … nicht … daß … du … gehst.«

»Ich …«

»Gut so, weiter … Will …«

»Ich habe Angst.«

»Wovor?«

»Vor dir, vor mir, vor allem.«

 

Er seufzte.

Und seufzte noch einmal.

 

»Schau her. Mach’s wie ich.«

Er baute sich auf wie ein Bodybuilder bei einem Schönheitswettbewerb.

»Ball die Hände zur Faust, mach den Rücken rund, winkle die Arme an, verschränke sie und halte sie unters Kinn. So.«

»Warum?« fragte sie verwundert.

»Weil. Du mußt deine Haut sprengen, die ist zu klein für dich. Siehst du. Du erstickst darunter. Du mußt da endlich raus. Komm schon. Ich will hören, wie die Naht auf deinem Rücken platzt.«

 

Sie lächelte.

»Scheiße, nee. Behalt’s für dich, dein blödes Lächeln. Ich will es nicht. Das ist es nicht, was ich von dir will! Ich will, daß du lebst, verdammt noch mal! Nicht daß du mich anlächelst! Dafür gibt es die Damen von der Wettervorhersage. Okay, ich muß los, sonst reg ich mich nur auf. Bis heut abend dann.«

 

 

21

 

 

 

Camille grub sich inmitten von Suzys fünfzigtausend buntbemalten Kissen eine Höhle, rührte ihr Essen nicht an und trank genug, um an den richtigen Stellen lachen zu können.

Auch ohne Dias durften sie eine Quizsendung über sich ergehen lassen.

»Aragonien oder Kastilien«, präzisierte Philibert.

»… sind die Brustdrüsen des Schicksals!« wiederholte sie bei jedem Foto.

Sie war fröhlich.

Traurig und fröhlich.

 

Franck ging recht bald, weil er mit den Kollegen von seinem Franzosenleben Abschied nehmen wollte.

 

Als Camille sich endlich erhob, begleitete Philibert sie bis auf die Straße.

»Meinst du, es wird gehen?«

»Ja.«

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Nein, danke. Ich laufe lieber.«

»Na dann, einen schönen Spaziergang.«

 

»Camille?«

»Ja?«

Sie drehte sich um.

»Morgen … Siebzehn Uhr fünfzehn am Gare du Nord.«

»Kommst du?«

Er schüttelte den Kopf.

»Leider nein. Ich muß arbeiten.«

 

»Camille?«

Sie drehte sich noch einmal um.

»Aber du. Geh du hin für mich. Bitte.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

22

 

 

 

»Bist du gekommen, um mit deinem Taschentuch zu wedeln?«

»Ja.«

»Das ist nett.«

»Wie viele sind wir denn?«

»Wer?«

»Frauen, die mit ihren Taschentüchern winken und dich mit Lippenstift beschmieren?«

»Tja, sieh dich um.«

»Nur ich?!«

»Na ja«, er verzog das Gesicht, »harte Zeiten. Zum Glück sind die Engländerinnen heiß. Das hat man mir jedenfalls erzählt!«

»Bringst du ihnen den French Kiss bei?«

»Unter anderem. Kommst du noch mit auf den Bahnsteig?«

»Ja.«

 

Er sah auf die Bahnhofsuhr:

»Gut. Dir bleiben nur noch fünf Minuten, um einen Satz mit sechs Wörtern auszusprechen, das dürfte doch machbar sein, oder? Komm schon«, gab er sich entrüstet, »wenn es zu viele sind, mir reichen zwei. Aber die richtigen, hem? Scheiße! Ich hab meine Fahrkarte noch nicht abgestempelt. Und?«

Stille.

»Dann eben nicht. Bleib ich halt ein Frosch.«

 

Er schulterte seine große Tasche und wandte ihr den Rücken zu.

Er rannte, um einen Schaffner zu erwischen.

Sie sah, wie er seine Fahrkarte wieder an sich nahm und ihr mit der Hand ein Zeichen machte.

 

Und der Eurostar entglitt ihren Fingern.

Und sie fing an zu weinen, die dumme Gans.

Und sie sah nur noch einen kleinen grauen Punkt in der Ferne.

 

Ihr Handy klingelte.

»Ich bin’s.«

»Ich weiß, das wird angezeigt.«

»Bestimmt erlebst du gerade eine hyperromantische Szene. Bestimmt stehst du allein auf dem Bahnsteig, wie in einem Film, und heulst deiner Liebe nach, die sich in einer weißen Rauchwolke verliert.«

Sie lächelte unter Tränen.

»Ü… Überhaupt nicht«, brachte sie heraus, »ich … ich wollte gerade den Bahnhof verlassen.«

 

»Du Lügnerin«, sagte eine Stimme hinter ihr.

 

Sie fiel ihm in die Arme und drückte ihn fest fest fest fest.

Bis die Naht platzte.

 

Sie weinte.

 

Öffnete die Schleusentore, schneuzte sich in sein Hemd, heulte noch mehr, entließ siebenundzwanzig Jahre Einsamkeit, Kummer, gemeine Schläge auf den Kopf, beweinte die Liebkosungen, die sie nie bekommen hatte, den Wahnsinn ihrer Mutter, die auf dem Teppich knienden Feuerwehrleute, die Zerstreutheit ihres Papas, die Schinderei, die Jahre ohne auch nur die geringste Atempause, die Kälte, die Freude am Hunger, die Entgleisungen, den Verrat an sich selbst und den ewigen Schwindel, den Schwindel am Rande des Abgrunds und den Flaschenhals. Und die Zweifel und ihren Körper, der immer ausscherte, und den Geschmack von Äther und die Angst, nicht mithalten zu können. Und auch Paulette. Paulettes Sanftmut, pulverisiert in fünfeinhalb Sekunden.

 

Er hatte ihr seine Jacke umgehängt und sein Kinn auf ihren Kopf gelegt.

»Komm schon«, flüsterte er ganz sanft, ohne zu wissen, ob es heißen sollte, komm schon, wein dich aus, oder, komm schon, nicht weinen.

 

Ganz wie sie wollte.

 

Ihre Haare kitzelten ihn, er war voller Rotz und sehr glücklich.

Sehr glücklich.

Er lächelte. Zum ersten Mal im Leben war er zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

 

Er rieb sein Kinn auf ihrem Kopf.

 

»Komm schon, mein Schatz. Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das. Wir werden es nicht besser machen als die anderen, aber auch nicht schlechter. Wir schaffen das, glaub mir. Wir schaffen das. Wir haben nichts zu verlieren, weil wir nichts haben. Komm.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Epilog

 

 

 

»Scheiße, ich glaub’s nicht. Ich glaub’s nicht«, moserte er, um sein Glück nicht hinauszuschreien, »der spricht nur von Philou, dieser Idiot! Und der Service hier und der Service da. Na klar! Ihm fällt das nicht schwer. Er hat die guten Manieren schon im Blut eintätowiert! Und der Empfang und das Dekor und die Bilder der Fauque und bla bla bla … Und meine Küche? Kein Schwein interessiert sich für meine Küche?«

Suzy nahm ihm die Zeitung aus der Hand.

»Liebe auf den ersten Blick für dieses Bistro blablabla, dessen junger Chef Franck Lestafier unsere Geschmacksnerven zum Staunen bringt und uns an seinen Wohltaten teilhaben läßt, indem er eine Küche lebendiger, leichter, fröhlicher Hausmannskost erfindet blablabla … In einem Wort: Hier erfährt man täglich das Glück eines Sonntagsessens ohne alte Tanten und ohne Montag … Na? Worum geht’s da? Die Börsenkurse oder ein Brathähnchen?«

 

»Nein, wir haben geschlossen!« rief er den Leuten zu, die den Vorhang hochhoben. »Oder ach, was soll’s, kommen Sie. Kommen Sie. Es ist für alle genug da. Vincent, ruf deinen Hund zurück, verdammt noch mal, sonst steck ich ihn in die Tiefkühle!«

»Rochechouart, bei Fuß!« befahl Philibert.

»Barbès. Nicht Rochechouart.«

»Ich ziehe Rochechouart vor. Nicht wahr, Rochechouart? Na, komm zu Onkel Philou, dort gibt’s einen großen Knochen.«

Suzy lachte.

Suzy lachte noch immer in einem fort.

»Ah, da sind Sie ja! Sehr schön, endlich haben Sie Ihre Sonnenbrille abgesetzt!«

Sie zierte sich ein wenig.

 

Auch wenn er die junge noch nicht kleingekriegt hatte, die alte Fauque war im Kasten. Camilles Mutter war in seiner Anwesenheit immer zahm und sah ihn mit den feuchten Augen eines Menschen an, der unter Psychopharmaka stand.

 

»Mama, das hier ist Agnès, eine Freundin. Peter, ihr Mann, und der kleine Valentin.«

Sie zog es vor, sie »eine Freundin« zu nennen anstatt »meine Schwester«.

Besser kein Psychodrama lostreten, wo es sowieso niemanden interessierte. Außerdem waren sie tatsächlich Freundinnen geworden.

 

»Ah! Endlich! Da kommen Mamadou und Co.!« rief Franck. »Hast du mir mitgebracht, worum ich dich gebeten habe, Mamadou?«

»Na klar, aber sei vorsichtig damit, das ist kein Chili für zarte Mägen, das sag ich dir.«

»Danke, super, komm, hilf mir lieber hinten.«

»Ich komm schon. Sissi, Vorsicht mit dem Hund!«

»Nein, der ist ganz lieb.«

»Misch du dich nicht in meine Erziehung ein und kümmer dich lieber um deinen Hund. Na? Wo ist denn die Kochstelle. Ach, die ist aber klein!«

»Logisch! Du nimmst ja auch den ganzen Platz ein!«

»Aber das ist doch die alte Dame, die ich bei euch gesehen habe, oder?« fragte sie und zeigte auf das Passepartout.

»Halt, nicht berühren. Das ist nämlich mein Talisman.«

 

Mathilde Kessler becircte Vincent und seinen Freund, während Pierre sich heimlich eine Speisekarte schnappte. Camille hatte sich vom Gazetin du Comestible inspirieren lassen, einer Zeitschrift von 1767, und die tollsten Gerichte gezeichnet. Herrlich. Und eh … die … die Originale, wo sind die?

 

Franck war vollkommen hektisch, stand seit dem frühen Morgen in der Küche. Wo einmal alle da waren.

»Los, zu Tisch, sonst wird alles kalt! Achtung, heiß!«

Er stellte einen großen Topf auf den Tisch und zog davon, um eine Schöpfkelle zu holen.

 

Philou schenkte die Gläser voll. Formvollendet wie immer.

Ohne ihn hätte sich der Erfolg nicht so schnell eingestellt. Er besaß dieses wunderbare Talent, den Gästen eine behagliche Atmosphäre zu bereiten, fand stets ein Kompliment, ein Gesprächsthema, ein geistreiches Wort, einen Touch französischer Koketterie. Und empfing begeistert alle Adligen des Viertels. Alles entfernte Cousins.

 

Wenn er die Gäste in Empfang nahm, machte er sich gut verständlich, hatte eine deutliche Aussprache, und die Wörter fielen ihm gewissermaßen zu.

Und wie es ein Journalist jüngst so platt ausgedrückt hatte, er war »die Seele« dieses kleinen schmucken Lokals.

 

»Los, kommt schon«, knurrte Franck, »gebt mir eure Teller.«

In den Moment hinein sagte Camille, die seit einer Stunde mit dem kleinen Valentin schäkerte und sich hinter ihrer Serviette versteckte:

»Ach Franck. Ich hätte gern auch so eins …«

 

Er füllte Mathildes Teller auf, seufzte … Scheiße, ich muß hier wohl wirklich alles machen, legte die Schöpfkelle auf den Teller, zog seine Schürze aus, hängte sie über den Stuhlrücken, nahm das Baby, legte es in die Arme seiner Mama, hob seine Liebste hoch, nahm sie auf die Schulter wie einen Sack Kartoffeln oder ein halbes Rind, stöhnte – die Kleine hatte ganz schön zugenommen –, machte die Tür auf, ging über den Platz ins Hotel gegenüber, streckte Vishayan, seinem Kumpel an der Rezeption, den er zwischen zwei Faxen mit Essen versorgte, die Hand hin, dankte ihm und ging lächelnd die Treppe hinauf.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Zitate auf den Seiten 186, 186/187 und 203 wurden mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Verlagsanstalt entnommen aus: Brady Udall, Der Bierdosenbaum. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens, DVA Stuttgart, München 2001.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine verrückte Wohngemeinschaft am Fuß des Eiffelturms.

Vier Personen suchen ein Zuhause: Vier grundverschiedene

Menschen – Camille (26), Philibert (36), Franck (34) und

Paulette (83) – wagen einen Neubeginn. Mit Charme und

Witz erzählt Anna Gavalda eine Liebesgeschichte, die an

Die fabelhafte Welt der Amélie erinnert. Ihr Roman beschreibt,

sagt sie, den umgekehrten Domino-Effekt: wie einer den

anderen aufrichtet und aus dem Schlamassel zieht.

 

»Es ist eine sehr schöne Geschichte, die uns

Anna Gavalda mit großer Unmittelbarkeit erzählt.

Fünfhundertundfünfig Seiten, und wenn man am

Schluß ankommt, hätte man gerne noch mehr davon.«

Sylvie Lainé, L'Indépendant

 

»Ein herzergreifender, zarter und anrührender Roman, in dem

das Lachen und die Not verschwistert sind, in dem die Alten

mit den blauen Flecken auf höchst menschliche Weise mit

jungen Motorradfahrern ein Schwätzchen halten.«

Pascale Haubruge, Le Soir

 

»Anna Gavalda ist eine großartige

Romanschriftstellerin, weil sie sich in ihre Personen

hineinversetzt und sie zum Sprechen bringt. Ihr neuer

Roman ist  Die Schöne des Herrn unserer Generation.«

Frédéric Beigbeder, Voici

 

 

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